Sandklaffmuscheln
Was Wolfgang Hildesheimer über die Rezeption von Musik in seiner Mozartbiografie zum Ausdruck bringt, lässt sich 1:1 auf die Rezeption abstrakter Kunst übertragen. Abstrakte Kunst versteht jeder anders. In letzter Konsequenz versteht sie natürlich keiner. Aber das Wenige, das wir glauben zu verstehen, genügt uns, um uns den Rest zu suggerieren. Je größer die assoziative Sogwirkung eines abstrakten Kunstwerkes ist, umso bildhafter ergänzen wir uns unsere interpretierende bildhafte Vorstellung. Das macht ja den Charm abstrakter Kunst aus, deren Deutung uns überlassen bleibt. Wir, die BetrachterInnen besitzen die Deutungshoheit. Folgerichtig fehlt auch dieser Wandskulptur von B.Chr.K.Barten ein Titel. Hinter einer Titelbeigabe könnte sich ja ein thematisches Konzept seitens der Künstlerin bei der Erstellung des Kunstwerks verbergen. Nichts aber liegt der Künstlerin bei der Planung und Erstellung ihrer Kunstwerke ferner. Allenfalls handwerkliche Lösungsideen beim Umgang mit dem Material ließen sich begrifflich denken.
B.Chr.K.Barten fertigt keinerlei Skizzen an, bevor sie ihre Grundplatte erstellt. Sie besitzt auch noch keine feste Vorstellung von dem Ergebnis, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sie dieses in Worte kleiden könnte. Dennoch weiß sie, wann sie mit der Arbeit anfangen muss. Während des Auswalzens der Grundplatte weiß sie dann auch, ob sie unregelmäßige Ränder erwalzen muss, oder ob sie ein rechteckiges Maß mit geraden Rändern benötigt. Aber sie könnte während dieses Prozesses nie begründen, warum sie sich wie entscheidet. Manchmal entstehen die Einzelelemente, aus denen sie ihre Arbeit zusammensetzt, vor dem Erstellen der Grundplatte. Sie weiß dann noch nicht, was sie damit machen wird, aber sie weiß sehr wohl, dass sie sie benötigen wird. Für den Außenstehenden schiebt sie dann die Einzelelemente auf der Arbeitsplatte hin und her, ohne dass ein Konzept zu erkennen ist. Irgendwann beginnt die Wandskulptur mit ihr zu sprechen. Die Arbeit gewinnt ein Eigenleben mit eigenem Charakter, wie ein lebendes Wesen. Irgendwann kommt dann auch der Punkt, an dem sie aufhört, die Einzelelemente umzuordnen. Sie weiß dann sehr klar, dass die Wandskulptur fertig ist. Einmal mehr kann sie für diese abschließende Entscheidung keine Begründung abgeben, aber sie ist absolut final. Die farbliche Gestaltung erfolgt Wochen später, denn der Paperclay muss nun erst einmal trocknen, aber sie folgt nach dem gleichen Arbeitsprinzip. Sie rührt solange in ihren Glasurtopfchen herum, bis sie weiß, welche Einzelelemente sie wie bemalen möchte. Nicht benötigte Farbtöpfe werden wieder geschlossen. Auch die finale Entscheidung hinsichtlich der auszuwählenden Malwerkzeuge fällt auf diese Weise - für Pinsel (diverse zur Auswahl), Malhörnchen, Schwamm oder Sprühgerät. Entscheidend ist eben nicht, wie man malt, sondern einzig das Ergebnis zählt. Der malerische Prozess, genauso wie der zuvor stattgefundende skulpturale Prozess, unterliegen so einem eigengesetzlichen Prozess, der sozusagen außerhalb der Künstlerin angesiedelt ist.
Im Ergebnis gewinnen diese abstrakten Werken eine assoziative Sogwirkung, der man sich nur schwer entziehen kann. Das gilt auch für diese Wandskulptur. Für mich als Rezensent entsteht sofort das Bild einer Anhäufung von Sandklaffmuscheln, die der letzte Sturm an den Strand gespült hat. Gepaart damit entstehen in meiner Vorstellungserinnerungen natürlich sofort ganze Landschaftsbilder der Nordseeküste, an der sich ein Großteil meines Lebens abspielte. Die an die Künstlerin gerichtete Frage, ob sie so etwas im Vorwege geplant habe, wird von ihr vehement verneint. Diese Arbeiten entstehen, weil sie sie machen muss, nicht, weil sie sie machen möchte. Das schließt natürlich nicht aus, dass Erinnerungen an die Nordsee als inspirierender Auslöser in ihr aktiv waren. Nur verneint sie auf Nachfrage vehement, dass sie bei der Planung und Erstellung der Wandskulptur die Absicht hatte, an den Strand gespülte Sandklaffmuscheln darzustellen. Dies ist einzig die Assoziation des Rezensenten. Andere BetrachterInnen - mit anderen Erinnerungsbiografien - können völlig andere Assoziationen entwickeln. Entscheidend für den künstlerischen Wert dieser Arbeit ist deren assoziative Sogkraft.
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